Der sch?nste Platz der Welt - Ehud Nahir: Ken-Leben in den Dreissigerjahren
Derjenige, der den Treffpunkten unserer Bewegung den Namen "Ken" - "Nest"
gab, hat es gut gemacht. Dieses Wort trifft wie kein anderes die Wirklichkeit
des "Klublokals" des HaShomer HaZair. Warm, geborgen, Zuhause. F?r die meisten
von uns war das Ken mindestens das zweite Zuhause, aber nicht wenige fanden dort
ihr erstes und wichtigstes Heim. Es war unser Obdach, unsere Zuflucht vor allen
Problemen und Bedr?ngnissen. Es gab nichts Sch?neres. So meinten wir unbefangen
und so sahen wir es in all den Jahren unserer Kindheit und Jugend und so
erinnere ich mich daran bis heute. Aber wenn wir fragen, was es eigentlich in
unserem "Wunderpalast" gab, so m?ssen wir ?beraschenderweise zugeben, da? das
Ken damals nur ein armseliger und feuchter Keller war, ohne Toiletten, ohne
Wasser, fensterlose Zimmer. Die Beleuchtung bestand aus einer schwachen
Gl?hbirne oder einer flackernden Kerze. Die M?bel waren ein Tisch und einige
ungehobelte B?nke. Es ist heute wirklich schwer, zu glauben, da? wir in einem
solchen Ken jahrelang jeden Abend unsere Zeit verbrachten, unz?hlige Stunden,
und da? wir niemals ?ber das Fehlen der Toiletten und des Wassers ein Wort
verloren. Wie haben wir uns eingerichtet? Die L?sung hie? jugendliche
Begeisterung. Wir haben diesen "Luxus" einfach nicht gebraucht. Unter diesem
physischen und ?u?erlichen Gesichtspunkt wurde das Ken von jedem Besucher von
Drau?en gesehen. In unserer Vorstellung war das Ken der sch?nste Platz der Welt,
strahlend und wunderbar. ...
Ich erinnere mich an das erste fundamentale Erlebnis als neuer Chaver des
HaShomer HaZair. Ich trat gemeinsam mit f?nf Freunden in den Shomer ein. Wir
kamen alle aus einer g?nzlich assimilierten Umgebung und wu?ten nichts ?ber
Judentum. ... Langsam, langsam n?herten wir uns und lernten das Judentum kennen,
wir lernten Einzelheiten aus der Geschichte unseres Volkes, ein bi?chen
Hebr?isch, wir h?rten von der zionistischen Idee, ?ber Eretz Israel und den
Kibbutz. Zum ersten Mal in unserem Leben erhielten wir eine j?dische Erziehung,
nicht versch?mt, sondern ernsthaft und stolz. Pl?tzlich sch?mten wir uns nicht
mehr f?r das Jiddische, das bis geringsch?tzig betrachtet hatten, eine Sprache,
gut f?r Schl?fenlocken- und Kaftantr?ger, die uns schmutzig und l?cherlich
vorkamen. Kurz nach meinem Eintritt in die Bewegung nahm uns unser Madrich ins
jiddische Theater mit. Das St?ck hie? "Ein Zertifikat nach Pal?stina" mit einer
ber?hmten Schauspielerin in der Hauptrolle. Wir verstanden fast kein Wort, und
wenn alle lachten, wu?ten wir nicht, warum.
Aber, siehe da, nach kurzer Zeit verstanden wir bereits Chaverim aus Eretz
Israel oder Polen, die uns im Ken besuchten und mit uns Jiddisch sprachen. ...
Dies zur j?dischen Erziehung, die wir durch die Bewegung genossen. Aber dies
war nur eine Seite, nur ein Teil der shomerischen, ideologischen Erziehung. Die
zweite Seite bestand aus der sozialistischen Erziehung zu Gerechtigkeit,
Gleichheit, Br?derlichkeit unter den V?lkern und Humanit?t gegen?ber dem Leid
des N?chsten und der tiefen Solidarit?t mit den Unterdr?ckten, gleich welcher
Religion, Nationalit?t, Hautfarbe oder Rasse. Wir tanzten und sangen im Ken, auf
unseren vielen Ausfl?gen in die Wiener Umgebung und auf den Winter- und
Sommerlagern die Lieder der Arbeiterbewegung und der Revolution. ...
Das Ken war auch so etwas wie eine Schule f?r Autididakten. Unsere Madrichim
erweckten in uns eine intellektuelle Neugier, ein Interesse an der Wissenschaft
und am Lesen. Bis in die sp?ten Nachtstunden lasen wir alles, was wir bekommen
konnten: Die Literatur der sowjetischen Revolution, Gorki und die Gro?en der
russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Selbstverst?ndlich gingen wir auch an
den Schriften Lenins und Trotzkis nicht vorbei. Wir "verschlangen" Balzac,
Anatole France, Victor Hugo und alles von Romain Rolland. Wir machten
Bekanntschaft mit den wichtigsten deutschen und ?sterreichischen
Schriftstellern, mit den Klassikern des 18. und 19. Jahrhunderts und unseren
gro?en Zeitgenossen wie Heinrich Mann, Klaus Mann, Erika Mann, Jakob Wassermann,
Klabund, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Kurt Tucholsky, Ernst Toller,
Berthold Brecht, Alfred D?blin, Stefan Zweig und Arnold Zweig. ... Wir
besch?ftigten uns mit den Klassikern des Marxismus, mit den B?chern Freuds,
Adlers und Reichs. Wir lasen Schriften ?ber Zionismus, Eretz Israel und den
Kibbutz. Ich kenne keine bessere Schule als jene, die wir durch die Bewegung
erhielten. Ich empfinde bis heute gegen?ber unseren Madrichim ein tiefes Gef?hl
der Dankbarkeit, da? sie uns eine Welt erschlossen, die uns sonst unbekannt
geblieben w?re. Die meisten unserer Chaverim waren Abg?nger der Volksschule, die
nur acht Jahre dauerte. Im Alter von vierzehn Jahren gingen sie bereits
arbeiten. Auch die ?ltere Jugend im Ken arbeitete meistens und ging nicht mehr
in die Schule. Nur ein geringer Prozentsatz der Chaverim besuchte ein Gymnasium.
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