Saul Tschernichowsky (1875-1943)
Der Dichter der Revolte
Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Hebraeische wieder zu einer
lebendigen, gesprochenen Sprache. Viele von Tschernichowskys Zeitgenossen
vertrauten auf das alte Vokabular und die biblischen Formen als Grundlage ihres
literarischen Werkes. Tschernichowsky benutzte moderne poetische Formen, um
bekannte Themen zu beschreiben und ahmte oft den Stil der romantischen Dichter
nach.
Tschernichowsky wurde im russischen Dorf Michailowka geboren, besuchte zuerst
eine hebraeische und spaeter eine russische Schule. So erhielt er den
Hintergrund seines juedischen und zionistischen Gedankengutes und der
allgemeinbildenden Faecher.
1892 veroeffentlichte er seine beiden ersten
hebraeischen Gedichte. 1898 erschien in Warschau sein erster Gedichtband
„Hezjonot uManginot" - „Visionen und Melodien". Diese ersten Werke waren
sensible Beschreibungen von Natur, Liebe und Schoenheit und bemerkenswert fuer
ihre Vielfalt an Versformen und ihre romantischen Bilder.
Spaeter studierte Tschernichowsky in Heidelberg und Lausanne Medizin. Nach
seiner Rueckkehr nach Russland wurde er als "politischer Agitator" sechs Wochen
eingesperrt.
Tschernichowsky diente waehrend des Ersten Weltkrieges als Arzt
in der Armee.
Nach dem Ersten Weltkrieg uebersiedelte er nach Deutschland
und wurde 1931 beauftragt, in Palaestina ein medizinisches Textbuch
herauszugeben. Er wanderte nach Palaestina aus, liess sich in Tel Aviv nieder,
wo er zum Schularzt ernannt wurde.
Tschernichowsky uebersetzte Werke der Weltliteratur aus fuenfzehn
verschiedenen Sprachen, darunter Homers "Ilias" und "Odyssee", Gedichte von
Anakreon, Horaz, Goethe, Byron und Shelley; Dramen von Sophokles, Shakespeare
und Moliere; und eine Reihe von Nationalepen wie das "Gilgameschepos",
"Kalevala", und Teile sibirischer, georgischer und islaendischer
Verserzaehlungen.
Das hellenistische Schoenheitsideal und der kanaanitische Kult, die beide vom
Diasporajudentum getadelt werden, kommen in seiner Dichtung stark zum Ausdruck.
Unter den hellenisierenden Gedichten Tschernichowskys nimmt "Die Statue"
einen besonderen Platz ein. Obwohl das Thema griechisch ist, ist das Gefuehl
hebraeisch. Das klassische Versmass ist einem klassischen Thema angepasst: der
Weihung einer Zeusstatue in Anwesenheit des Bildhauers und Gesandter aus der
griechischen Welt. Die Ehrfurcht der Menschen, die mit der Statue konfrontiert
werden, die ekstatischen Ausrufe "Kalos, kalos, kalos" ("schoen, schoen,
schoen"), die so sehr an das hebraeische "Kadosch, kadosch, kadosch"
("heilig, heilig, heilig") erinnern, werden ohne Zurueckhaltung beschrieben, wie
es die Gelegenheit gebietet. Aber die Haltung des Bildhauers ist eher hebraeisch
als griechisch. Er allein steht unberuehrt von der Statue, die er geschaffen
hat, aber ehrfuerchtig vor dem Gott, der schoener und reiner ist als die Statue.
Als er die Statue schuf stand die Vision Gottes vor seinem inneren Auge, und
Gott blieb bei ihm auch nachdem er die Statue fertigestellt hatte; sein
unerreichtes, unerreichbares Ideal. Die Abstraktion Gottes ist ein hebraeisches
Konzept und kein griechisches.
Gleichzeitig feierte Tschernichowsky das traditionelle juedische Dorfleben in
einer Serie von Idyllen, die im daktylischen Hexameter verfasst wurden. Die
Uebertragung der juedischen Existenz im laendlichen Suedrussland in Dichtung war
Tschernichowskys Geschenk an die hebraeische Literatur. In seinen Idyllen sind
die Juden mit der Natur in Frieden und die guten Nachbarn der Christen.
Tschernichowsky beschreibt das einfache Volk, die Freuden und Sorgen des
Landlebens, den Einfluss der Jahreszeiten auf den Menschen und die Natur.
Tschernichowsky legte den Glanz von Sonetten, Balladen und Idyllen ueber die
zeitgenoessische Jugend in den sich aufloesenden Talmudakademien und ueber ihre
brennende Hoffnung auf ein wiedererstehendes Land Israel. Er markierte einen
neuen Weg durch seine Treue zu einer kraftvollen Vergangenheit und seine epische
Einsicht in die gesunden Elemente des Diasporajudentums.
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Updated: 11/12/00